Kinan Sibaï

Das neueste Werk des 15-jährigen Kinan: Ein Motorrad aus einem alten Schleifstein, den er in einem Fluss gefunden hat, aus Kennzeichen landwirt-schaftlicher Fahrzeuge,
aus Velos, aus alten Strommasten von einer Mülldeponie und aus Schläuchen. Zu sehen bei der zusammen mit seiner Schwester organisierten Ausstellung.

«Ich würde gerne die Zeit zurückdrehen können»

Kinan Sibaï
(2007*) lebt mit seinen Eltern, seiner älteren Schwester und seinem Hund im Kanton Waadt. Seit seinem achten Lebensjahr wird er zu Hause unterrichtet. Er bastelt gerne und liebt es, mit seinen Händen zu arbeiten. Derzeit absolviert er ein zweimonatiges landwirtschaftliches Praktikum bei der Stadt Lausanne.

Interview: Ariane Tripet, Fotos: Markus Schneeberger

Was begeistert dich?
Kinan Sibaï:
Ich gehe gerne in den Wald, um nach alten Dingen zu suchen. Früher gab es keine Mülldeponien, und die Menschen haben ihren Abfall einfach in Feuerlöchern im Wald entsorgt. Es ist verrückt, was man alles finden kann. Ich habe zum Beispiel eine Briefmarkenpresse gefunden, mit der man früher Briefmarken hergestellt hat. Geprägt wurde damals mit Tinte. Ich habe auch Giftflaschen, Maggi-Flaschen aus dem Jahr 1900 oder alte Schläuche gefunden. Manche Gegenstände baue ich zu Skulpturen oder Lampen zusammen. Ich liebe es auch, mit Holz zu arbeiten, und stelle Möbel her. Manchmal passiert es, dass ich zwischen 2 und 3 Uhr morgens hämmere – meine Eltern sind dann nicht gerade begeistert. (lacht) Ich kann nicht besonders gut schlafen und halte Schlafen für eine Zeitverschwendung.

Wenn man dir eine besondere Gabe schenken würde, welche wäre das?
Es klingt vielleicht etwas egoistisch, aber ich würde gerne die Zeit zurückdrehen, um an verschiedene Gegenstände zu gelangen, die es heute nicht mehr gibt. Ich würde zum Beispiel gerne in die Sechzigerjahre zurückgehen, um Helme und andere Gegenstände aus dem Zweiten Weltkrieg zu suchen, von denen es damals noch viele gab. Solange es keine Minen sind, wäre das toll! (lacht). Ich könnte dann auch in andere Epochen reisen, um zu sehen, wie die Leute damals angezogen waren, und um die Gegenstände, die ich gefunden habe, in ihrem ursprünglichen Umfeld zu erleben. Ich habe ziemlich viele alte Flaschen, und ich würde so gerne einmal das Geschäft sehen, in dem sie damals verkauft wurden.

Was willst du einmal beruflich machen?
Ich würde gerne Agropraktiker werden. Man arbeitet auf dem Bauernhof, aber es ist eine berufliche EBA-Grundbildung. Ein Agropraktiker kümmert sich um alles Mögliche, zum Beispiel füttert er die Tiere, macht sauber, repariert, räumt auf usw. Ich muss einfach immer beschäftigt sein. Wo ich jetzt arbeite, ist immer etwas zu tun. Das gefällt mir. Wenn nichts los ist, langweile ich mich.

Wovon träumst du?
Es klingt vielleicht etwas traurig, aber ich habe keine Träume für die Zukunft. Was grosse Entscheidungen für die Zukunft angeht, lebe ich ein bisschen von einem Tag auf den anderen. Ich sage mir lieber, wenn etwas nicht geht, dann muss es wohl so sein. Es kommt sicher etwas anderes. Und dann schaut man, was es ist. Man muss nicht immer wissen, was kommt. Manchmal ist es sogar besser, wenn man es nicht weiss. Die meisten grossen Veränderungen kommen ohnehin unerwartet.

Worauf bist du besonders stolz?
Das mag jetzt vielleicht ziemlich selbstverliebt erscheinen, aber ich bin stolz auf mich, weil ich in meinem Leben kaum auf andere Menschen angewiesen bin. Das war früher nicht so. Aber heute brauche ich zum Beispiel meine Eltern nicht mehr, wenn ich allein im Wald unterwegs bin. Wenn ich mich verlaufe, werde ich nicht panisch, sondern denke nach. Darüber bin ich sehr froh. Ausserdem glaube ich, dass es nicht viele Eltern gibt, die ihr Kind irgendwo abseits der ausgewiesenen Wege im Wald herumlaufen lassen. Ich mache das aber jeden Tag. Viele fragen mich, ob ich keine Angst habe, irgendwelche seltsamen Dinge zu erleben. Mir gefällt es aber sehr, dass ich selbstständig mit unerwarteten Dingen umgehen kann.

Was braucht es, damit die Gesellschaft inklusiver wird?
Ich finde, dass man über Personen mit meinem Syndrom (Asperger) oder anderen Syndromen nicht als Menschen mit Handicap sprechen sollte. So wird eine Barriere zwischen uns und anderen aufgebaut. Es ist bereits eine Art Ausgrenzung, die die Menschen ganz unbewusst vornehmen. So sagen manche Leute zum Beispiel: «Oh, er hat das gemacht, aber es ist nicht so schlimm, weil er ja Autist ist.» Weil er es IST. Bei einer Person ohne Handicap würde man bei einem vergleichbaren Verhalten sagen: «Das war ein Fehler, es ist nicht so schlimm.» Die Ausgrenzung ist umso schlimmer, wenn man so etwas sagt, weil man die Person mit einem Etikett versieht. Wenn also die Menschen aufhören würden, Barrieren zu errichten und eher die Seele als den Körper einer Person betrachteten, wäre allen schon viel geholfen.

«Entdeckungen im Wald» von Kinan und Mahina Sibaï
Ausstellung vom 10. Mai bis 9. September 2022
Galerie Syndrome Artistique,
Rue du Petit-Chêne 20, 1003 Lausanne
www.syndromeartistique.ch Link öffnet in neuem Fenster.