Brigitte Bächtold

Für Brigitte Bächtold ist eine gemütliche Atmosphäre zu Hause nicht nur sicht- sondern auch spürbar.

«Ich will meinen Tag selbstständig gestalten können»

Brigitte Bächtold

(*1964) ist mehrmals im Jahr als Moderatorin für Procap Bildung und Sensibilisierung unterwegs. Hauptberuflich unterrichtet sie als Lehrerin auf der Beratungsstelle Zürich des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands die Brailleschrift. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter.

Interview Esther Banz Fotos Reto Schlatter

Procap: Wir sitzen hier in deiner Wohnung in Zürich. Wie würdest du dein Zuhause beschreiben?
Brigitte Bächtold:
Es ist eine alte, stark sanierungsbedürftige 3-Zimmer-Genossenschaftswohnung. Ich wohne hier mit meinem Hund Kaito, aber nicht mehr lange: Wir ziehen bald in ein neu entstehendes Haus einer anderen Genossenschaft. Ich bin bereits in regem Austausch mit der Verwaltung, weil ich wegen meiner Sehbehinderung spezielle Geräte brauche: Moderne Kochherde beispielsweise funktionieren oft über Touchscreen – die kann ich aber nicht bedienen.

Draussen ist Kaito dein Assistent – wie ist es drinnen, unterstützt er dich hier auch?
Nein, zu Hause darf er einfach Hund sein. Aber ich habe nebst moderner Technik auch die Unterstützung von zwei Assistenzpersonen, ohne die es nicht ginge, etwa für meine Finanzen, Rechnungen, Verträge oder Formulare, überhaupt den ganzen Bürokram. Einmal in der Woche kommt zudem eine Putzhilfe, ansonsten reinige ich selbst. Ich koche auch selbstständig, erledige den Abwasch und meine Wäsche, und meistens gehe ich selbst einkaufen.

Gibt es im Alltag zu Hause mühsame Situationen?
Etliche! Das Zusammenkehren von Scherben oder anderen Dingen, wenn etwas heruntergefallen ist. Oder eine Sicherung wieder einschrauben. Nicht erkennen, dass der Kühlschrank nicht mehr funktioniert – da gibt es allerlei.

Wie wichtig ist es für dich, dass du selbstständig wohnen kannst?
Sehr wichtig! Ich will mich nicht an einen fremden Plan halten müssen. Ich will meinen Tag selbstständig gestalten können.

Und was bedeutet dir das Wohnen überhaupt?
Sehr viel. Das ist mein Zuhause. Ich will es schön haben.

An deinen Wänden hängen Bilder …
Ja. Ich sehe zwar nicht, was sie abbilden, aber ich spüre sie. Die Bilder strahlen eine Wärme aus, schaffen Atmosphäre.

Unterschätzen Sehende ihre anderen Sinne?
Oh ja! Man verlässt sich viel zu sehr auf das Visuelle. Die anderen Sinne übernehmen übrigens sofort, wenn der Sehsinn weg ist.

Wie hast du das genau erlebt?
Ich habe bis zum Alter von 16 Jahren gesehen. Eine seltene Krankheit liess mich erblinden, zum Schluss praktisch über Nacht. Das Gehör hat dann aber sofort übernommen. Ich höre heute besser als zuvor. Intensiver wurde auch mein Tastsinn – was ich anfangs aber eher als unangenehm empfand.

Was passiert, wenn du Dinge in den Händen hältst und abtastest?
In meinem Kopf entstehen dann sofort Bilder. Wenn ich beispielsweise die Blüte eines Baumes anfasse, sehe ich gleich den ganzen Baum.

Wie bist du mit Procap verbunden?
Ich arbeite seit einem Jahr als Moderatorin für die Sensibilisierungskurse von Procap. Unser Team geht in Schulen, zu Unternehmen und Organisationen und besteht immer aus jemandem mit einer Hörbehinderung, jemandem mit einer Sehbehinderung und jemandem im Rollstuhl. Manchmal ist auch jemand mit Autismus dabei.

Was lernen die Teilnehmenden von dir?
Ich erkläre ihnen die Sehbehinderung, zeige die Blindenschrift, und in Rollenspielen erleben die Teilnehmenden, wie es ist, blind zu sein. Ich gebe ihnen eine Dunkelbrille und eine Aufgabe. Die Mitarbeitenden einer kantonalen Verwaltung erhielten beispielsweise den Auftrag, sich einen Pass ausstellen zu lassen. Sie erlebten, wie krass es ist, als blinde Person an ihrem eigenen Schalter zu stehen. Ausserdem hat sich herausgestellt, dass der Schalter viel zu hoch ist für eine Person im Rollstuhl. Ein anderes Mal waren wir mit Angestellten eines Verkehrsunternehmens an einer Bushaltestelle, und alle sollten ein Billett lösen. Dabei zeigte sich, dass dies an den neuen Automaten des Unternehmens für eine Person mit einer Sehbehinderung unmöglich ist.

Erlebst du im Alltag ebenfalls Schwierigkeiten im öffentlichen Verkehr?
Andauernd. Die Ein- und Ausstiegshilfe der SBB (das Callcenter Handicap) funktioniert nicht mehr zuverlässig und bringt mich immer öfters in schwierige Situationen. Ich habe auch schon zu hören bekommen, dass wir blinde Menschen fordernd seien, dass ich eine Begleitperson mitnehmen solle, wenn ich mit dem Zug unterwegs sei und umsteigen müsse. So viel zum Thema Selbstbestimmung! (lacht)

Welche Superkraft ist dir eigen?
Ich kann Menschen sehr gut einschätzen und irre mich dabei nur selten. Das ist ein besonderes Sensorium, das ich habe.

Und wie nimmst du Procap wahr?
Als sehr engagiert! Die Sozialversicherungs- und Rechtsberatung ist Gold wert, genauso die Sensibilisierungsabteilung, für die ich arbeite.