Zusätzlich benachteiligt in der Wohnkrise

Das Gemälde illustriert, wie die meisten Wohnungen für Menschen mit Behinderung unerschwinglich sind

Eine bezahlbare Mietwohnung zu finden, wird immer schwieriger. Und die steigenden Nebenkosten machen das Wohnen teurer. Gleichzeitig sollen die Rechte der Mietenden verschlechtert werden. Menschen mit Behinderungen sind von dieser Entwicklung zusätzlich betroffen.

Text: Esther Banz, Illustration: Selina Bächli

Kürzlich erfuhr Procap von einer Familie mit zwei Kindern, eines davon stark behindert, die in der Region Biel eine grössere Wohnung suchte. Die Familie lebt seit Jahren auf nur 65 Quadratmetern. Unter den ausgeschriebenen Wohnungen hat es höchst selten eine, die das Elternpaar mit seinen 5500 Franken Bruttoeinkommen bezahlen könnte. Fürs Wohnen sollte man nicht mehr als 25 Prozent des Einkommens ausgeben müssen, empfiehlt der Dachverband Budgetberatung Schweiz. Im Fall dieser Familie sollte die Miete also maximal 1375 Franken betragen. Solche Wohnungen sind aber kaum noch ausgeschrieben – und wenn, bewerben sich sehr viele Suchende dafür. Hinzu kommt, dass günstige Immobilien oft älter sind – und somit selten barrierefrei. Dies sind meistens nur die neueren, teureren Wohnungen. Denn die Barrierefreiheit der Erschliessung bei Neubauten gibt es erst seit 2004 (und dies gemäss dem Behindertengleichstellungsgesetz auch nur bei Wohnhäusern ab neun Einheiten, wobei einige Kantone weiter gehen und dies schon ab beispielsweise vier Wohnungen in einem Neubau verlangen).

Procap betreibt online eine Wohnungsbörse und stellt Informationen für die Suche einer barrierefreien Wohnung zur Verfügung. Vor allem aber berät und unterstützt Procap bei baulichen Anpassungen. Viele Wohnungen können auch nachträglich barrierefrei gemacht werden – das ist für die zahlreichen Menschen, die erst im fortgeschrittenen Alter eine Behinderung haben, oder für Eltern von Kindern mit Behinderungen relevant. Die IV bezahlt diese Anpassungen in der Regel. Allerdings müssen die Wohnungseigner*innen zustimmen.

Reserven sind zunehmend aufgebraucht

In der heutigen Zeit ist es aber nicht nur schwierig, eine bezahlbare und erst noch barrierefreie Wohnung zu finden. Auch das Halten der bisherigen Wohnung kann zum Problem werden, wenn etwa der Referenzzinssatz und damit auch die Miete – sowie obendrauf die Nebenkosten – steigt. Wer von einer IV-Rente und allenfalls Ergänzungsleistungen (EL) lebt, wie fast die Hälfte aller IV-Rentner*innen, hat nur wenig Geld zur Verfügung. Hier 60 Franken mehr für die Wohnung, dort 50 Franken zusätzlich für den Strom und das Heizen und nochmals 120 Franken mehr für die Krankenkasse aller Familienmitglieder, dazu ebenfalls teuerungsbedingt höhere tägliche Ausgaben beim Essen: Das kann eine Person oder eine ganze Familie finanziell an den Rand der Existenz bringen. Und genau das passiert jetzt. Die steigenden Kosten haben für viele Menschen mit und ohne Behinderungen dramatische Folgen – notabene für all jene, die schon zuvor kaum Reserven im Budget hatten.

Wer im Rollstuhl ist, braucht eine geräumige Wohnung. Grosse, rollstuhlgängige Wohnungen gehören aber zu den teureren. Zwar hat der Bund im Rahmen der EL-Anpassungen jüngst die Mietzinsmaxima erhöht und je nach Region gestuft (erstmals nach 18 Jahren!) sowie die Rollstuhlpauschale angehoben. Aber die gleichzeitig stark steigenden Wohnkosten vertragen sich schlecht mit dem knappen Budget von Personen, die von IV und EL leben müssen.

Kurze Fristen

Ohne Reserven oder familiäre Unterstützung wird es in Zukunft für viele mit knappem Budget zunehmend schwierig, die Miete zu bezahlen. Und das Schweizer Gesetz ist in diesem Punkt gnadenlos: Bei Nichtbezahlung kann der*die Vermieter*in eine Zahlungsfrist von 30 Tagen ansetzen und die Kündigung androhen. Wird die Miete innerhalb dieser Zeit nicht beglichen, kann sie*er mit einer weiteren Frist von 30 Tagen auf das Ende eines Monats kündigen.

Kommt dazu, dass das Mietrecht aktuell auch im Bundesparlament unter Druck steht (siehe «Mietrecht unter Druck»). Verliert eine Person, deren Wohnung einst baulich angepasst wurde, ihr Zuhause und braucht eine neue Wohnung, ist sie ziemlich sicher wieder auf Anpassungen angewiesen. Das kann eine grosse Hürde sein. Bei häufigeren Wohnungswechseln bezahlt die IV aber nur mit grosser Zurückhaltung. So schreibt Pro Infirmis: «Bei Mietwohnungen werden Anpassungen von der IV nur bezahlt, wenn eine gewisse Stabilität des Mietverhältnisses garantiert ist.»

Bezahlbar wohnen zu können, ist insbesondere für Armutsgefährdete von existenzieller Bedeutung. Für sie ist etwa die Hilfsorganisation Caritas eine wichtige Anlaufstelle. Inzwischen wenden sich zunehmend mehr Menschen an deren Beratungsstellen – Personen, die zu wenig verdienen, um alle Rechnungen bezahlen zu können, aber noch zu viel, um Sozialhilfe zu erhalten. Unterstützung suchen auch Menschen, die Sozialhilfe erhalten, deren Wohnung mit der Mietzinserhöhung jedoch zu teuer geworden ist. In vielen Gemeinden ist die Sozialhilfe beim Einhalten der jeweils geltenden sogenannten Mietzinslimiten sehr streng. Auch diese Betroffenen müssen die Differenz selbst mit jenem Geld begleichen, das ihnen fürs Essen bleibt. In den Städten der reichen Schweiz stehen deshalb inzwischen mehr Menschen dort an, wo gratis Essen ausgegeben wird.

Viele Lücken im System

Die aktuelle Wohnkrise verschärft sich aber nicht nur in urbanen Gebieten, sondern auch in ländlichen Kantonen. Im Oberwallis erlebt die Sozialarbeiterin Jasmine Gnesa, dass immer mehr Menschen keine Anschlusslösung haben, wenn sie ihre Wohnung verlieren: «Früher kam es einmal im Jahr vor, dass wir jemanden im Hotel unterbringen mussten – inzwischen ist es sehr viel öfter.» Jasmine Gnesa hat sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit vertieft mit der Wohnproblematik auseinandergesetzt und sieht viele Lücken im Schweizer System, angefangen bei fehlenden Zahlen und Statistiken. Als eine Konsequenz daraus würden auch Strategien und Mittel fehlen, um mit den Schwierigkeiten umzugehen, sagt sie.

So könne man oft den Menschen erst dann helfen, wenn es eigentlich zu spät sei, nämlich wenn sie die Wohnung bereits verloren hätten: «Man muss zuerst in die Sozialhilfe fallen, um Anrecht auf Unterstützung zu haben.» Dabei würde vielen bereits ein Vorschuss von nur einer Monatsmiete helfen, um die Wohnung behalten zu können. Und dass die Sozialhilfe mit der Vermieterschaft reden würde, sagt Jasmine Gnesa. Alles mit dem Ziel, Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu vermeiden. Zum einen aus ethischen Gründen – zum anderen auch deshalb, weil Notunterkünfte in Hotels die öffentliche Hand x-fach stärker belasten als Zuschüsse, damit jemand seine Wohnung behalten kann.

Doch diese Unterstützung fehlt – was Jasmine Gnesa nicht versteht. Sie sagt: «In der Arbeitsvermittlung gibt es Fachstellen, Beratungen, Integrationsangebote – das Angebot ist riesig! Und beim Wohnen? Da gibt es nichts.» Sie vermisst ein Wohnhilfesystem mit Fachstellen und Vermittlungen.

Wer ist zuständig?

Das kommt nicht von ungefähr. Wohnen ist zwar ein Grundbedürfnis, auf das niemand verzichten kann. Aber in der Schweiz gibt es keine staatliche Pflicht zur Sicherstellung des Rechts auf Wohnen – respektive: Es sei viel zu wenig klar definiert, sagt Gnesa. «Es gibt zwar in der Bundesverfassung mit dem Artikel 12 ein ‹Recht auf Hilfe in Notlagen›. Aber ein eigentliches ‹Recht auf Wohnen› oder auf Wohnhilfe ist dort nicht festgeschrieben. Das wird auf die Kantone abgeschoben.» Und die Zahlen fehlen, wie schon erwähnt, ebenfalls.

Das alles habe zur Folge, so Gnesa, dass den wachsenden sozialen Problemen nicht Einhalt geboten werden könne. Sie sagt: «Die Politik sieht das Problem nicht.» Und die Zuständigkeiten seien – nicht zuletzt dadurch – unklar. Menschen mit Behinderungen sind davon ebenfalls betroffen. Denn die staatliche IV ist nur hinsichtlich baulicher Massnahmen für das Wohnen zuständig. Die Mietzinsen fallen in den Bereich der Ergänzungsleistungen, für welche wiederum die Ausgleichsstellen zuständig sind, also die Kantone. Und dies bedeutet in der föderalistischen Schweiz: Es ist in jedem Kanton anders geregelt.

Die Politik – auf kantonaler wie auch nationaler Ebene – wird sich aber eher früher als später intensiver mit der Wohnkrise beschäftigen müssen. Denn wie das Bundesamt für Wohnungswesen vorrechnet, wird sich das Wohnen bis 2026 weiter verteuern – um durchschnittlich bis zu 15 Prozent. Die Schweizerische Konferenz der Sozialhilfe (SKOS) appelliert an Hausbesitzer*innen, mit Mietpreisaufschlägen zurückhaltend zu sein. Bund, Kantone und Gemeinden sollten ausserdem ihre Massnahmen zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum weiter ausbauen. Denn dass durch Renovationen und Neubauten insgesamt mehr barrierefreie Wohnungen entstehen, ist zwar richtig und wichtig – allerdings sollten diese neuen respektive erneuerten Wohnungen auch denjenigen zugänglich sein, die auf günstige Wohnungen angewiesen sind.

Mietrecht unter Druck

Als wären die stetig steigenden Kosten beim Wohnen nicht schon Herausforderung genug, ist auch das Mietrecht in der Schweiz stark unter Druck: 2023 hiess das Parlament zwei Vorstösse von Hans Egloff (SVP, Präsident des Hauseigentümer*innenverband HEV) gut: Erstens soll die Untermiete massiv erschwert werden. So soll etwa ausserordentlich gekündigt werden können, wenn jemand vergisst, die Bewilligung zur Untermiete eines Zimmers zu beantragen – das soll sogar gelten, wenn der*die Mieter*in selbst in der Wohnung lebt. Nach heutigem Recht müssen die Besitzer*innen lediglich informiert werden. Gegen dieses politische Begehren hat der Mieter*innen-Verband der Schweiz zusammen mit der SP das Referendum ergriffen.

Die zweite von den Hauseigentümer*innen erwünschte Anpassung der Mietrechte betrifft den Eigenbedarf: Diesen sollen Hausbesitzer*innen einfacher und schneller geltend machen können. Auch gegen diesen Entscheid kamen auf der Strasse genügend Unterschriften für ein Referendum zusammen – die Stimmberechtigten werden das letzte Wort haben.

Noch bevor es diesbezüglich zur Abstimmung kommt, muss das Parlament bereits über weitere Verschlechterungen des Mietrechts entscheiden: Die Lobby der Immobilienbesitzer*innen will, dass es künftig deutlich schwieriger wird, einen vermutlich missbräuchlichen Anfangsmietzins überhaupt noch anfechten zu können. Ferner soll die Rendite, die Hausbesitzer*innen mit Mietwohnungen erzielen können, auf zwei Prozent erhöht werden. Letzteres ist aufgrund eines Bundesgerichtsentscheids bereits Realität.