Mattia Zocchi

Mattia Zocchi arbeitet daran, Procap im Tessin bekannter zu machen, und wünscht sich von der Politik mehr Aufmerksamkeit für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen.

«Ich leiste gerne Hilfe zur Selbsthilfe.»

Mattia Zocchi
(*1990) ist seit 2018 Geschäftsführer von Procap Tessin und gleichzeitig zuständig für die Sozialberatung der Sektion. Seine Hobbys sind Lesen, Zeichnen, Reisen und Wandern. Er lebt und arbeitet in Lugano.

Interview: Sonja Wenger
Fotos: Markus Schneeberger

Procap: Wie bist du zu Procap gekommen?
Mattia Zocchi: Ich habe eine Wirtschaftsmatur abgeschlossen, wollte aber schon immer im Sozialbereich tätig sein. Bevor ich 2018 die Leitung der Geschäftsstelle von Procap Tessin übernahm, habe ich deshalb in Alters- und Pflegeheimen und in Werkstätten und Stiftungen für Menschen mit Behinderungen gearbeitet.

Unterscheidet sich Procap von anderen Behindertenorganisationen?
Absolut. Procap hat nicht nur ein sehr breites Dienstleistungsangebot mit Beratungen, Reisen und Sport, sondern auch eine einzigartige Fachkompetenz im Rechtsbereich. Mir gefällt ausserdem gut, dass sich Procap stark für die Selbsthilfe einsetzt. Ich bin im Sozialbereich tätig, weil ich gerne andern Menschen helfe. Aber ich empfinde es als wichtig, vor allem Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

Wie ist die Situation von Menschen mit Behinderungen im Tessin?
Ich empfinde die Haltung der Menschen grundsätzlich als aufmerksam und grosszügig. Man hilft gerne. Allerdings bin ich der Meinung, dass es noch grossen Handlungsbedarf gibt bei der Zugänglichkeit, vor allem bei Neubauten. Hier fehlt das nötige Bewusstsein fast vollständig. Eine zunehmende Verschlechterung stelle ich ausserdem im Umgang mit den Sozialversicherungen und den Behörden fest.

Wie äussert sich das?
Es wird immer komplizierter und ist mit viel Schreibarbeit verbunden, um die nötigen Informationen und Unterlagen zu erhalten. Ob ein kooperativer Austausch möglich ist, hängt auch stark von den einzelnen Personen ab, mit denen man bei den Versicherungen und Behörden zu tun hat. Das sollte aber nicht so sein, denn die Menschen haben ja ein Recht auf Sozialversicherungsleistungen. Das sind keine Almosen. Trotzdem ist der Umgangston teils so schlimm, dass sich die Personen, die einen Antrag gestellt haben, als wertlos empfinden. Zudem ist die finanzielle Unterstützung oft nicht ausreichend, was die Betroffenen sehr belastet. Als direkte Folge sind viele, die zu mir in die Beratung kommen, niedergeschlagen oder sogar verzweifelt.

Was erlebst du bei deiner Arbeit in der
Sozialberatung?

Die Menschen kommen vor allem zu uns, wenn etwas bei den Anträgen nicht funktioniert hat. Entsprechend sind wir mit vielen Emotionen konfrontiert. Wir versuchen dann als Team, die beste Lösung zu finden. Oft geht es aber auch darum, den Leuten zu erklären, weshalb ein Antrag abgelehnt wurde. Leider werden sie von den zuständigen Stellen nicht immer ausreichend informiert oder beraten.

Wie präsent ist Procap im Tessin?
Wir haben derzeit etwa 220 Aktivmitglieder. Das ist nur ein sehr kleiner Teil der Betroffenen. Da unsere Geschäftsstelle in Lugano ist, können wir aber nicht in allen Regionen des Tessins gleich präsent sein. Andererseits haben wir einen engen Austausch mit Procap Grischun. Wir betreuen ihre italienischsprachigen Mitglieder und sie unsere deutschsprachigen. Hinzu kommt, dass wir viel mit anderen Organisationen zusammenarbeiten, etwa im Behindertensport. Wir sind aber auf gutem Weg, bekannter zu werden. So konnte ich kürzlich an einer Konferenz zum Thema Elternschaft teilnehmen, Procap vorstellen und über Kinder mit Behinderungen sprechen. Das war für viele Teilnehmende ein völlig neuer Aspekt, und ich habe im Anschluss viele Anrufe dazu erhalten.

Welche besondere Gabe oder Superkraft hättest du gerne?
(lacht) Diese Frage habe ich mir so noch nie gestellt, obwohl ich sehr gerne Fantasy-Geschichten lese und auch selbst schreibe. Ich würde wohl sehr gerne meine Empathie kontrollieren können. Empathie ist eine grossartige Kraft. Sie kann aber auch gefährlich sein, denn man entwickelt mit ihr eine sehr starke Verbindung zu anderen Menschen. Deshalb fände ich es gut, sie je nach Bedarf auch mal abschalten zu können.

Wo siehst du neben der Zugänglichkeit noch Handlungsbedarf?
Zum einen sicher darin, die Menschen noch stärker für behinderungsspezifische Themen zu sensibilisieren. Aber auch darin, die Prozesse bei den Anträgen für Leistungen zu vereinfachen und menschlicher zu gestalten. Vor allem aber sollte die Politik diesem Thema mehr Aufmerksamkeit schenken. Menschen mit Behinderungen sind in den Medien immer sichtbarer. Aber in der Politik wird kaum über ihre Bedürfnisse diskutiert. Hier wünsche ich mir mehr politischen Willen zur Umsetzung dessen, was ja gesetzlich bereits vorhanden ist.