Eine Schulung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt

Ob in Bibliotheken oder Museen, im öffentlichen Verkehr, in Verwaltungen oder bei der Polizei: Die Mitarbeiter*innen von Procap Bildung und Sensibilisierung sind in der ganzen Schweiz unterwegs. Sie schulen das Personal von Unternehmen, Institutionen oder Organisationen und unterstützen es dabei, seine Dienstleistungen den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen anzupassen.

Text: Martine Salomon, Fotos: Florian Bachmann

Letzten November in einer Genfer Bibliothek: Eine Mitarbeiterin will das Gebäude verlassen, bleibt jedoch wie angewurzelt vor der Drehtüre stehen. Die Glasflügel drehen und drehen sich. Sie findet keine Möglichkeit, sich einzufädeln. Dies, obwohl die Mitarbeiterin täglich durch diese Tür geht – und es gewohnt ist, sich mit den eintretenden Personen zu synchronisieren. Doch an diesem Tag trägt sie eine Augenbinde. Und sie stellt sofort fest, dass die Drehtüre für eine Person mit einer Sehbehinderung ein kompliziertes Hindernis darstellt.

Einige Wochen später hat ein Mitarbeiter des Bahnunternehmens BLS in einem Berner Bahnhof ebenfalls eine Art Offenbarung. Er sitzt in einem Rollstuhl und weiss nicht, wie er von der Unterführung hoch zum Bahngleis kommen soll. Die Rampe vor Ort erweist sich als sehr lang und sehr steil. Bereits nach wenigen Metern reicht die Kraft in seinen Armen nicht mehr aus, um die Räder anzutreiben. Und er fühlt sich sehr einsam in jenem Moment, als der Rollstuhl beginnt, rückwärtszufahren.

Grosser Sensibilisierungsbedarf

«Man wird sich der Art Schwierigkeiten, mit welchen Menschen mit Behinderungen im Alltag konfrontiert sind, nur bewusst, wenn man sie am eigenen Leib erlebt», erläutert Sabrina Salupo, Leiterin der Abteilung Bildung und Sensibilisierung bei Procap Schweiz. Deshalb sind Beispiele von realen Situationen wie die oben beschriebenen im Sensibilisierungsunterricht so wichtig. Seit zwölf Jahren bietet Procap in Zusammenarbeit mit Menschen mit verschiedenen Behinderungen in allen Landesteilen der Schweiz individuell angepasste Sensibilisierungsschulungen an.

Im vergangenen Jahr wurde dabei ein neuer Rekord erreicht: An 88 Schulungstagen nahmen 1243 Teilnehmer*innen aus einem breiten beruflichen Spektrum teil – darunter Mitarbeiter*innen vom Zivilschutz des Kantons Neuenburg, vom Passbüro des Kantons Schwyz, vom Kunstzentrum Pasquart in Biel und von einer Hochschule im Kanton Graubünden. «Einige Unternehmen buchen zudem regelmässig», sagt Sabrina Salupo. «Die BLS ist mit mehreren Schulungen pro Jahr eine unserer treuesten Kundinnen, da sie jede*jeden neue*n Mitarbeiter*in sensibilisieren möchte.»

Reale Situationen selbst erleben

Für die Sensibilisierungsschulungen kommt ein Team von Procap vor Ort. In einem zweiteiligen Workshop und in Gruppen von maximal fünf Personen werden dabei verschiedene Behinderungsformen behandelt. Ein*e Moderator*in mit der jeweiligen Behinderung zeigt, wo und in welcher Form es zu komplizierten Situationen kommen kann und wie er*sie diese als Betroffene*r erlebt. Nach einer Runde mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung gehen die Teilnehmer*innen in die Praxis über. Um etwa eine Sehbehinderung zu veranschaulichen, erhalten sie eine Brille, mit der sie nur noch verschwommen sehen oder ein stark eingeschränktes Sehfeld haben. Mit diesen Simulationsbrillen müssen sie sich dann im Raum orientieren und bewegen.

Die Teilnehmer*innen erfahren in den Schulungen unmittelbar, dass sich Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zwar sehr unterschiedlich bewegen oder interagieren, dass sie aber gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft sind und entsprechend in allen Aspekten miteinbezogen werden sollten. Diese Erfahrungen bewirken, dass sich die Schulungsteilnehmer*innen der besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen bewusst werden. Und dies wiederum hat zur Folge, dass sie ihre so gewonnenen Erkenntnisse im Arbeitsalltag einfliessen lassen können.

Künftig wirksamer interagieren

Natürlich liegt es nicht in den Möglichkeiten der Mitarbeiter*innen, allfällige bauliche Hindernisse selbst zu beseitigen. Dies bedarf finanzieller Investitionen, welche oft nicht in ihrem Kompetenzbereich liegen. Doch es gibt stets Vorschläge, mit denen die Zugänglichkeit der Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen einfach und kostengünstig verbessert werden kann. Dazu gehört etwa eine bessere Anordnung des Mobiliars, eine gute Beschilderung oder die Bereitstellung von Informationsmaterial in Leichter Sprache.

Das wichtigste Element ist jedoch, dass die Mitarbeiter*innen ihre künftigen Interaktionen mit Betroffenen effektiver gestalten können – weil sie dank den Sensibilisierungsschulungen verstehen, was das Gegenüber empfindet. So fragt der Schulungsteilnehmer Pierre, der eine Augenbinde trägt, nach dem Weg. Sein Kollege Jean antwortet «dort drüben» und zeigt in eine bestimmte Richtung. Pierre versteht nun, dass eine präzisere Beschreibung notwendig ist im Sinne von «links von dir, fünf Meter weiter». Als ihm Jean zudem die Richtung zeigen will, indem er ihn von hinten schiebt, bekommt Pierre Angst, über ein Hindernis zu stolpern – und erkennt so die Relevanz der sogenannten umgekehrten Technik: Wenn Jean stattdessen leicht vor Pierre steht und diesem seinen Ellenbogen anbietet, kann Pierre ihm in seinem eigenen Tempo folgen und fühlt sich dabei sicher.

Eine andere Übung besteht darin, sich einer Person verständlich zu machen, welche schalldämpfende Kopfhörer trägt. Ein gängiger Reflex besteht darin, dass man beginnt, sehr laut zu sprechen oder gar zu schreien. Dies ist jedoch kontraproduktiv, weil es das Lippenbild verändert. Ziel ist es, weiterhin so zu sprechen, dass die gehörlose oder schwerhörige Person die Worte so gut wie möglich von den Lippen ablesen kann.

In entspannter Atmosphäre

Die Procap Sensibilisierungsschulungen finden bewusst in einem entspannten Umfeld statt – denn viele Menschen haben Angst, gegenüber einer Person mit Behinderungen etwas falsch zu machen. «Wenn sie aber einen ganzen Tag mit Betroffenen verbracht haben, merken die Schulungsteilnehmer*innen, dass man mit ihnen wie mit jedem anderen Menschen kommunizieren kann», erzählt Sabrina Salupo. «Und man merkt auch, dass es nicht schlimm ist, wenn mal ein Patzer passiert.»

Sie selbst erinnert sich noch rege daran, als sie vor zehn Jahren eine blinde Moderatorin vom Bahnhof zum Schulungsort führte und diese fragte: «Hast du gestern Abend im Fernsehen die Sendung XY gesehen?» Sie sei sehr erschrocken und habe sich sofort entschuldigt. «Ich war wie versteinert. Doch die Referentin hat gelacht und mir dann erklärt, dass diese Formulierung für Menschen mit einer Sehbehinderung keineswegs anstössig sei.» Im Gegenteil. Sie selbst würden oft auch sagen, dass sie diesen oder jenen Film «gesehen» hätten – und zwar mit einer Audiodeskription.

«Genauso ist es mit unseren Moderator*innen», sagt Sabrina Salupo. «Vieles wird mit Humor vermittelt. Das hilft, dem Thema die Schwere zu nehmen.» Am Ende würden die Teilnehmer*innen inspiriert nach Hause gehen und sagen: «Das war die beste Fortbildung, die wir je hatten. Endlich eine Schulung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt!»

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