Louise Hanmer

Eine Künstlerin tanzt auf der Bühne
Sich durch kreatives Schaffen mit seinem verunfallten Körper versöhnen: Das ist die Erfahrung von Louise Hanmer, die ihre Kunst neu erfunden und mit ihrem Stück «Dense/scénario» die Freude am Tanzen wiedergefunden hat.

«Wenn man tanzt, fühlt man sich lebendig»

Louise Hanmer
*1973) lebt in Genf und hat zwei Kinder. Sie wuchs als Tochter englischer Eltern im Kanton Waadt auf, zusammen mit ihrer mit einer Trisomie geborenen Schwester. Hanmer entwickelte eine Leidenschaft für den Körper und die Bewegung und erforscht diese Elemente in ihren Berufsfeldern als Tänzerin, Choreografin, Psychomotorik-Therapeutin und Yogalehrerin. Bei einem Sturz 2019 hat sie die Beweglichkeit dreier Finger an ihrer linken Hand eingebüsst.

Interview Ariane Tripet  Fotos Erika Irmler, Ariane Tripet

Procap: Vielen Dank, dass du auf unseren Aufruf an die Mitglieder, die sich im Kunstbereich engagieren, reagiert hast. Was hat dich dazu motiviert?

Louise Hanmer: Ich habe gerade in einer von mir inszenierten Aufführung, «Dense/scénario», gespielt, die unter anderem das Thema Behinderung thematisiert. Die Idee zu diesem Stück entstand nach einem Unfall mit meiner Hand. Ich habe mir drei Finger gebrochen und trotz viel Rehabilitation und zwei Operationen einen dauerhaften Mobilitätsverlust erlitten. Natürlich ist das im Vergleich zu anderen Einschränkungsformen eine kleine Behinderung. In diesem Zusammenhang ist es übrigens interessant, dass der Körper bei der IV beziffert wird. Ein medizinisches Gutachten hat meine Beeinträchtigung auf 5,83 Prozent beziffert, die gesamte Hand auf 17,5 Prozent.

Und wie bist du auf dieses Stück gekommen? 

Als Tänzerin und Psychomotorik-Therapeutin stellten sich mir nach dem Unfall eine Menge Fragen: Wird meine Hand wieder vollständig heilen, und werde ich noch tanzen können? Wenn ja, wie? Und dann sagte mir jemand in meinem Umfeld: «Mein Gott, deine Show 2013 mit dem falschen Arm war eine Vorahnung!» Diese Bemerkung führte bei mir zu weiteren Fragen: Welchen Sinn gibt man einem Unfall oder einer Behinderung im Leben? Wie versteht man die neue Situation? Ist es Zufall, Schicksal oder göttlicher Wille? Wie geht man mit der Behinderung um? Für mich war dies zwar ein schwieriger Prozess, aber der künstlerische Antrieb war letztlich grösser. Und ich denke, dass jeder Mensch auf seine Weise Kräfte und Strategien hat, um Schwieriges im Leben zu bewältigen. Meine Strategie war es, mit dem Schreiben zu beginnen. Das war in meinem kreativen Schaffen als Tänzerin neu. 

Worum geht es in deinem Stück «Dense/scénario»? 

Es ist ein Stück mit stark autobiografischem Inhalt. Es werden viele Themen berührt, etwa das Leben einer Frau in den Fünfzigern, Mutterschaft, Behinderung und die damit verbundenen Fragen: Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit; was macht man mit einem eingeschränkten Körper? Ich wollte auch schon länger über meine Schwester sprechen, die mit Trisomie 21 geboren wurde, und in dem Zusammenhang auch die Fragen thematisieren, die die Fruchtwasseruntersuchung aufwirft. Weiter spreche ich auch über meine Karriere als Tänzerin und die «non-danse»-Bewegung der 90er-Jahre in Genf sowie über andere künstlerische Referenzen. Ich unterhalte mich sogar mit meinem Idol Michael Jackson!

Da ich englischer Herkunft bin, gibt es auch viel britischen Humor. Ich lache beispielsweise darüber, dass meine Fingerverengung am Ende gar nicht so sehr auffällt. Das Paradoxe ist, dass es meine ganze Zeit und meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte, obwohl es nur einen sehr kleinen Teil meines Körpers betraf ... ausser im Krankenhaus, da hatte ich das Gefühl, wirklich nur noch eine Hand zu sein (lacht). Und dann gehe ich im Stück der Frage nach, ob ich überhaupt sagen darf, dass ich ein Mensch mit Behinderung bin? Weil es nur 5,83 Prozent Einschränkung sind und es mir derzeit ziemlich gut geht. Auf der Bühne lache ich ein bisschen über all das, weil es auch Raum dafür bietet.

Hat dein Unfall deine Herangehensweise an das Tanzen verändert? Und wenn ja, wie? 

Ich glaube, ich habe mich selbst während des Schaffensprozesses des Stücks etwas geheilt. Als ich mit dem Schreiben anfing, hatte ich noch starke Schmerzen und lehnte meinen Körper ab, so als hätte er mich betrogen. Ich glaube, die grösste Frage, die sich mir stellte, war, wie ich mich damit abfinden und gleichzeitig akzeptieren kann, dass ich mit einer anderen Hand weiter tanzen kann. Ich werde keine körperlichen Höchstleistungen mehr vollbringen können, aber ich bin sowieso in einem Alter, in dem ich es etwas ruhiger nehme. Ich musste lernen, dass sich meine Bewegung ein wenig verändern wird. Es ist übrigens lustig, wie sich meine rechte Hand, die nicht behindert ist, an die Form der krummen Finger meiner linken Hand anpasst, so als hätte sie gewisse Empathie. Das Stück hat mir auf jeden Fall ermöglicht, die Freude am Tanzen wiederzufinden. Im Tanz gibt es etwas, das dem Lebenswillen ähnelt – man fühlt sich lebendig. 

Glaubst du, dass Tanzen ein Mittel sein kann, um das Bewusstsein für die Herausforderungen, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, zu schärfen? 

Ich finde jedenfalls, dass das Tanzen ein Ort der Begegnung mit sich selbst, unserer Einzigartigkeit und mit dem anderen ist. Man kann sich nicht verstecken. Deshalb ja, man kann für die Bedürfnisse und die Funktionsweise des Gegenübers sensibilisiert werden. Aber man wird auch auf sich selbst zurückgeworfen mit der Frage: Wie akzeptiert man den anderen?

Möchtest du den Leser*innen noch eine Botschaft mitgeben? 

Vergesst nicht zu tanzen! Lasst uns Gelegenheiten schaffen, um gemeinsam zu tanzen, damit wir uns besser kennenlernen! 

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